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Perspektivenwechsel – Reep-Schnur erzählt aus seinem Leben

Hallo, mein Name ist Schnur, genauer gesagt Reep-Schnur. Ich freue mich riesig, dass du dir Zeit nimmst, meine Geschichte zu lesen. So viel Aufmerksamkeit bekomme ich höchst selten.

Vor 8 Jahren stand ich mit meinen Schnurfreunden im Regal, als mich ein bärtiger Mann lächelnd anschaute, packte und leise vor sich hinsprach: «Genau die!» Es kam Bewegung in mein Leben. Ich wurde getragen, durfte auf dem Förderband dahingleiten, wurde mit rotem Laser beleuchtet und durfte Auto fahren. In einem Büro endete meine Reise.

Fein säuberlich wurde ich aufgewickelt und vom Bärtigen seinen Freunden präsentiert, bevor ich in einen grossen Sack zu vielen anderen Schnüren gelegt wurde. Im Sack bei den Schnüren wurde unglaublich viel «gschnurret». Von abenteuerlichen Reisen, von Sonne, Regen, Eis und Schnee. Geschichten über Frust und Niederlagen, Wut und Hass, Erfolge und Selbstwirksamkeit. Geschichten aus dem Wald, im Schnee, Höhlen, auf dem Wasser und aus den Bergen.

Jetzt 8 Jahre später kann ich auch «mitschnurren». Bei den unzähligen Expeditionen, Heldenreisen, Trainingstagen, Workshops und Herausforderungen erlebte ich die ganze Bandbreite der Emotionen und kann von Höhenflügen und Niederlagen erzählen. Gerne nehme ich euch auf eine dieser Reisen mit.

Über das Wochenende liege ich auf der Plane und in mir breitet sich eine grosse Freude aus, denn ich weiss, dass ich bald gebraucht werden würde. Mein Leben hat einen Zweck. Ein Jugendlicher taucht neben mir auf und kniet sich nieder. In seinem Gesicht erkenne ich eine Mischung aus Wut und Unsicherheit. Ungläubig, dass er mit meiner Hilfe sein Camp bauen soll, nimmt er mich ehrfurchtsvoll in seine Hand und legt mich in den grossen Rucksack. Bald liege ich zwischen Schlafsack, Kleidern, einem Kochtopf, zwei Karotten und einem Pack Pasta eingeklemmt in der Dunkelheit. Ich spüre, wie der Rucksack hochgehoben wird, es schaukelt mächtig. Wahrscheinlich hat der Junge noch nie einen so grossen Rucksack getragen. Dumpf nehme ich Gesprächsfetzen des Jungen mit zwei anderen Jungen wahr. Sie sind auf der Suche nach Gemeinsamkeiten; Freunde welche sie kennen, Freizeitaktivitäten welche sie teilen, youtube-Videos welche sie unterhaltsam finden, Lehrpersonenverhalten welches sie schrecklich finden – kurz um, es geht um gemeinsames Leid und Freud. Mir wird einmal mehr bewusst, welchen grossen Herausforderungen die Jungs täglich konfrontiert sind. Wie sie wohl diese Tage meistern?

Ich nehme kräftiges Atmen wahr und es dringt Wärme in den Rucksack, offenbar zeigt der Junge vollen Körpereinsatz. Vermehrt höre ich: «Sie, wie lange dauert es noch?» «Sie, ich kann nicht mehr!» Die Stimmung wird ungemütlich, Wut, Erschöpfung, Unsicherheit, Angst und Hass wechseln sich in schneller Folge ab. Plötzlich spüre ich eine grosse Kraft und werde umhergeschleudert. Der Kochtopf scheppert, eine Karotte bricht, ehe noch ein kraftvoller Kick den Schlafsack trifft. Der Junge setzt sich auf uns und seine Wut schlägt in Trauer um, er weint. Stille. Eine beruhigende erwachsene Stimme taucht auf, ich spüre die Führsorge und Klarheit. Die Stimmung scheint sich zu entspannen und mit einem Ruck geht es weiter.

Klick – der Rucksack öffnet sich, ein Lichtstrahl schimmert durch das Pastapack auf mich. Kräftige Hände packen mich, halten mich in die Höhe und fragend meint der Junge: «Meinen Sie diese hier?!» Etwas unsicher und unbeholfen beginnt er mit mir und der Plane ein Camp zu bauen. Dabei werde ich geknöpft, um Äste gewickelt und gespannt. Ich erkenne Zuversicht und im nächsten Moment Enttäuschung und Frust. Erneut werde ich gewickelt und geknöpft und nach drei weiteren Versuchen mache ich im Gesicht des Jungen Stolz und Zufriedenheit aus. Dies nenne ich Erfolg oder wie es Winston Churchill sagte: «Erfolg ist einmal mehr aufstehen als umfallen.» Im Halbdunkeln präsentiert der Junge dem Expeditionsteam stolz sein Camp, während ich mit meiner Spannkraft das Camp oben halte.

Mit dem Ausgehen der Stirnlampe kündigt sich die Nachtruhe an. Das Himmelszelt glitzert um die Wette und der kühle Bergwind lässt die Plane und mich durch die Nacht schaukeln.

Die feuchte Herbstluft hat mich über Nacht länger gemacht und mein Schnurfreund vis-à-vis hat sich durch das ständige Schaukeln gelöst. Auf einmal schaut ein verdutzter Junge aus dem Schlafsack unter der Plane hervor. Offenbar wurde er durch die auf ihm liegende Plane geweckt.

«Können Sie mir nochmals den Spanner-Knoten zeigen?», höre ich und freue mich darüber. Geübte Hände fassen mich an und zeigen dem aufmerksamen Jungen, wie man meinen Lieblingsknoten knöpft. Ich liebe ihn deshalb, weil ich mit ihm meine volle Kraft entfalten kann und jederzeit wieder mit Leichtigkeit gelöst werden kann, ohne einen Knopf im Hals zu haben. Nach zwei Versuchen gelingt dem Jungen der Knoten. Es entsteht eine wohlwollende Spannung zwischen uns Schnurfreunden und der Plane. Diese Spannung scheint dem Jungen zu gefallen, die Mundwinkel ziehen sich leicht nach oben. Ich sehe den Jungen noch kurz seine Sachen packen, ehe er verschwindet.

Bei untergehender Sonne kehrt der Junge zurück. Schaut mich prüfend an und scheint zufrieden zu sein. Die Temperaturen fallen schnell, schon bald beginnen sich zwischen meinen Fasern erste Eiskristalle zu bilden. Über Nacht entsteht um mich ein durchsichtiger Panzer aus Eis.

Mit zittrigen Händen versucht mich der Junge zu lösen, was ihm beim zweiten Versuch gelingt trotz meines Eismantels. Meinem Schnurfreund auf der anderen Seite ergeht es weniger gut. Der unkonventionelle Knoten lässt sich nicht lösen. Ihm wird kurzerhand ein Gliedmass abgetrennt – Autsch. Vereist und achtlos zusammengeknüllt lande ich im Rucksack. Wir schaukeln weiter.

Ein Feuer erhellt die Dunkelheit, als ich erneut aus dem Rucksack gezerrt werde. Ich lande im Matsch, kurz darauf steht noch jemand auf mich und drückt mich noch tiefer in den Schlamm. Ich denke schon: «Da werde ich wohl bleiben und niemand interessiert sich für mich!», ehe mich ein Lichtstrahl einer Taschenlampe trifft. Ich höre eine triumphierendes «Da!» und werde aus dem Schlamm gezogen. Der Bärtige knotet mich gekonnt und schon bald bin ich Teil des Gruppencamps. Ich spüre die Wärme des Feuers und kann die Jungs bei ihrer Arbeit beobachten. Mit dem Sackmesser schneiden sie etwas unbeholfen aber ausdauernd Gemüse, dünsten Reis in einer Pfanne über dem Feuer an, legen Feuerholz nach und kochen ein lecker duftendes Risotto. Es gelingt ihnen unzählige Handlungsschritte nacheinander und in Koordination zueinander auszuführen. Kochen auf dem Feuer ist eine komplexe Geschichte. Sichtlich zufrieden schöpfen sich die Jungs ihr dampfendes Risotto und wärmen sich am Feuer und mit dem Essen von innen. Ich nehme Entspannung, Stolz und Zufriedenheit wahr. Es wird gelacht und viel gegessen.

Abseits meines Blickes in der Dunkelheit waschen die Jungs ihre Teller und den Topf. Die beiden Erwachsenen haben während dessen ein grosses Feuer entfacht und einen Plan für den Abend geschmiedet.

Das wärmende Feuer hat mich inzwischen fast getrocknet und der Schlamm bröselt bei jeder Berührung von mir herunter. Alle Expeditionsteilnehmer versammeln sich am Feuer zum Tagesabschluss. Es wird über Erfolge und Herausforderungen des Tages gesprochen, über Emotionen und Gefühle. Bald dreht sich das Gespräch über Liebe, Intimität, Scham, Angst und weitere sehr persönliche Themen. Ich bin einmal mehr berührt über die Intimität von Feuergesprächen in der Dunkelheit. Sie ermöglichen offenbar den Jugendlichen sich von ihrer feinen und verletzlichen Seite zu zeigen. Deshalb sind die Zeiten in denen ich als Reepschnur des Gruppencamps zum Einsatz komme so unglaublich wertvoll und spannend.

Die Gespräche ziehen sich bis spät abends hin, ehe sich dann auch die Erwachsenen in ihre Kokons verkriechen. Das Feuer wird kleiner und kleiner, bis schliesslich nur noch eine kaum sichtbare, von Asche überzogene, Glut vorhanden ist.

Die nächsten beiden Tage liege ich ganz unten im Rucksack. Offenbar werde ich nicht mehr gebraucht. Neonlicht blendet mich, als mich der Junge das nächste Mal aus dem Rucksack zieht. Er ist trägt ein Boxeur Kapuzenpullover und blaue Jeans, ein starker Duft von Axe-Deo steigt in meine Fasern. Widerwillig hält er mich unter den warmen Wasserstrahl, es scheint als ob ich bei ihm zuhause bin. Auf dem Fussboden vor der Heizung legt er mich aus, zusammen mit den anderen gewaschenen Sachen. Vier Tage trockne ich im Zimmer des Jungen und werde Zeuge seiner alltäglichen Herausforderungen zwischen Schule, Hausaufgaben, Freunden, Freundin, Familie, Handy, Socialmedia, Konsum von betäubenden Substanzen, Zukunft, Lehrstellensuche, Erwartungen an ihn, Ängsten, Zweifeln und Sorgen.

Ich empfinde viel Empathie für diesen Jungen und bin gleichzeitig beeindruckt, welche Resilienz er zeigt und seinen Weg in diesem Labyrinth des Lebens zeigt.

Ein letztes Mal packt er mich in den Rucksack und bringt mich ins Büro zu TRIVAS, wo ich im Schnursack auf meine Freunde treffe und meine Geschichte zum Besten gebe.