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Menschenwürde und Scham

Stell Dir vor, Du bist auf einer Party und es macht Dich jemand darauf aufmerksam, dass Deine Hose auf der Rückseite einen riesigen Fleck hat. Du fühlst Dich sofort unwohl und möchtest am liebsten im Erdboden versinken. Jeder von uns hat in seinem Leben schon unendlich viele Momente erlebt, in denen Scham empfunden wurde. Scham ist ein mächtiges Gefühl, das uns nicht nur das Empfinden gibt, dass wir etwas falsch gemacht haben, sondern dass wir als Person nicht in Ordnung sind. Dabei sind die Situationen, in denen wir Scham empfinden, nicht immer so offensichtlich wie ein Fleck auf der Kleidung. Scham kann uns auch in subtilen sozialen Situationen beeinflussen, in denen wir uns nicht akzeptiert oder wertgeschätzt fühlen. Dabei kann Scham unterschiedlich auftreten, je nach Vorfall lange anhalten und uns quälen oder auch nur ein kurzer Affekt sein, der schnell wieder abklingt.  
Allgemein kann jedoch gesagt werden, dass Scham ein unangenehmes Gefühl ist. Die Scham macht uns sprachlos, sie peinigt uns, sie quält uns. Diese unangenehmen Gefühle können dazu führen, dass wir uns zurückziehen oder uns verstecken.  
 
Ich habe mich in den letzten Jahren beruflich wie privat viel mit dem Thema Scham auseinandergesetzt. Ein Buch, das mich in meinem Denken und Handeln massgeblich beeinflusst hat, ist „Scham, die tabuisierte Emotion“ von Stephan Marks. Marks erläutert darin, dass Scham oft verdrängt oder ignoriert wird, obwohl sie eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft spielt und uns dabei helfen kann, uns selbst und unsere Handlungen zu reflektieren. Scham ist laut Marks untrennbar mit menschlicher Existenz verbunden. Sie hat eine wichtige Funktion, wenn sie für die Integrität eines Menschen sorgt, den Schutz der eigenen körperlichen und seelischen Grenzen. Daher kann es nicht das Ziel sein, das Gefühl der Scham völlig zu vermeiden, da sie für die Entwicklung der Persönlichkeit eines Menschen von grosser Wichtigkeit ist. Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema habe ich festgestellt, dass Scham also durchaus positiv sein kann und eine wichtige Funktion trägt. Scham ist nämlich die Hüterin der Würde. Unsere menschliche Würde lässt sich auf vier Grundbedürfnisse zurückführen: den Wunsch nach Zugehörigkeit, den Wunsch nach Integrität, den Wunsch nach Schutz, und den Wunsch nach Anerkennung. Dabei ist noch wichtig zu erwähnen, dass Scham empfunden werden kann, weil ich mich vor anderen Menschen schäme (z.B. wenn ich mich “peinlich” benommen habe) aber auch, wenn ich meinen eigenen Werten und Ansprüchen nicht gerecht werde. Scham ist wie ein Seismograph, der sensibel reagiert, wenn das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit oder Integrität verletzt wurde. Mit anderen Worten, wenn die Würde eines Menschen verletzt wurde, aktiv (durch andere) oder passiv (durch sich selbst). Dieser Seismograph reagiert auch, wenn man Zeuge ist, wie die Würde anderer Menschen verletzt wurde oder wenn dieser sich selbst entwürdigt („fremdschämen“). Die vier Themen der Scham sind wie ein Mobile, das jeder Mensch in jeder Situation neu ausbalancieren muss. Die Würde eines Menschen zu achten, bedeutet damit, jedem Menschen überflüssige, vermeidbare Scham ersparen. Marks hat mir aufgezeigt, dass ein gesundes Scham-Erleben nur dann entwickelt werden kann, wenn sich diese vier Grundbedürfnisse in Balance befinden. Erst dann können wir in Würde leben. 
Sowohl in der Arbeit mit Erwachsenen als auch in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erlebe ich es immer wieder, dass eine grosse Entlastung entstehen kann, wenn verstanden wird, dass dieses Gefühl des sich Schämens, sich klein und wertlos zu fühlen, darauf zurückzuführen ist, dass ein Grundbedürfnis nicht befriedigt ist. Mit viel Vertrauen und Beziehungsarbeit ist es möglich, sich diesem Thema behutsam zu nähern. Insbesondere bei Jugendlichen ist das Thema der Zugehörigkeit ein zentraler Aspekt. Sie befinden sich in einem Prozess der Metamorphose, sie verlassen die kindliche Welt, das Unbeschwerte und Verspielte, und sind gleichzeitig damit beschäftigt, sich von der Welt ihrer Eltern und der Erwachsenen abzugrenzen. Diese Phase, in der sich Jugendliche haltlos finden können, ist eine sensible Zeit und braucht daher liebevolle Zuwendung. Eine Begegnung auf Augenhöhe, die Themen der Jugendlichen ernst zu nehmen, ihnen mit Respekt und Demut entgegenzutreten und ihnen alternative Lebensmuster aufzuzeigen, ist etwas, was mich in meiner Arbeit mit grosser Freude erfüllt. Meine ganz eigene Zauberformel für den Umgang mit Scham ist es, raus aus der Bewertung zu gehen und dafür in die Selbstwirksamkeit zu kommen.  
In diesem Sinne: schön, dass es Dich gibt, liebe Scham. Ich danke Dir dafür, dass Du mich immer wieder prüfen lässt, ob ich noch auf meinem ganz individuellen Weg bin!